Vor einiger Zeit habe ich erkannt, dass ich selbst noch viel von meinem Kind lernen kann.
Mein Sohn saß an einem Samstag schon morgens sehr eifrig am Küchentisch und machte seine Hausaufgaben. Ich saß noch im Schlafanzug und habe neben ihm noch meinen warmen Tee getrunken.
Beim Üben eines Buchstabens habe ich ihn darauf hingewiesen, dass die bisher geschriebenen Buchstaben zu aufrecht stehen aber gemäß Vorlage etwas weniger steil sein müssten.
Seine heftige Reaktion traf mich wie ein Donnerschlag! Er schrie und weinte fürchterlich. Wieso ich ihn immer korrigieren müsse? Nichts würde er richtig machen, gleich würde ich einen Fehler finden und seine Lehrerin würde in der Folge zu ihm sagen: zu viel radiert. Er war außer sich. Ich fühlte mich plötzlich total hilflos und klein, wie ein dummes Kind.
Ich war das dumme Kind. Die Situation kam mir ziemlich bekannt vor. Wenig konnte ich als Kind richtig machen, schnell wurde mir der Fehler vor Augen geführt.
Mir war das nur noch nie so bewusst geworden. Durch seinen völlig berechtigten Ausbruch vertauschten sich die Vorzeichen und ich konnte meinerseits von meinem Kind lernen. So wurde mir klar, dass ich diese Art der „gut gemeinten“ Erziehung geerbt hatte. Das wollte ich auf keinen Fall und so erkannte ich, dass ich dieses Erbe wie einen alten Pullover ablegen würde. Sich in einem solchen, durchaus sehr aufwühlendem Moment dessen Gewahr werden, was in einem vorgeht und wo es herkommt, ist wie Balsam für die Seele.
Und so konnte ich auch seine Reaktion viel klarer sehen. Wie konnte ich nur übersehen, dass er alles schon so toll macht. Er ist selbstständig, pflichtbewusst und macht an einem Samstagmorgen ohne Erinnerung seine Hausaufgaben. Wie blöd musste ich sein, das zu übersehen? Meine Reaktion war völlig unreflektiert.
Ich war so dankbar, dass er die Situation so klar benennen konnte und frei sagte, was er dachte und fühlte.
Als wir später gemeinsam im Auto saßen habe ich mir Zeit gelassen, das Thema anzusprechen. Unkommentiert konnte ich es nicht lassen.
Zunächst habe ich uns eine Anekdote in Erinnerung gerufen, also die Jungs mal wieder fürchterlichen Streit hatte und ich fragte, warum sie bei einer Lappalie (die ich schon vergessen habe) so in Zorn geraten. Damals antwortete mein Sohn, Mama, wir können das eben noch nicht so gut, wie Du. Das müssen wir noch lernen.
Wie viel kann ich noch von meinem Kind lernen!
Also erklärte ich ihm „es gibt etwas, das ich noch lernen muss. Würdest Du mir dabei bitte helfen?“ Ich bat ihn, bei der Ablage des alten Pullovers mein Coach zu sein; mir dabei zu helfen, das Verhalten abzuschalten. Natürlich gab ich ihm das Versprechen, mich UNgefragt nie mehr einzumischen. Es sei mir wichtig, dass er wisse, er können immer zu mir kommen und ich hätte großes Interesse an seinem Fortschritt. Wenn er Hilfe benötige, wäre ich immer da. Seine Hilfe würde ich dabei benötigen, mich daran zu erinnern, wenn es mal leider nicht klappt. Mein Sohn willigte sehr gern ein und wir versicherten uns, ein Team zu sein und uns gegenseitig zu coachen.
Ich denke nicht, dass es eine zu große Bürde für ein Kind ist, seinen Eltern zu helfen. Ich meine damit ja nicht Kinderarbeit. Aber ich denke, es ist wichtig, den Kindern auch aufzuzeigen, was SIE bewirken können. Und dass man als Eltern zugeben kann – es ist sogar recht befreiend, es zu tun-, dass man Fehler hat und gern auch von meinem Kind lernen kann. Die Erkenntnis, dass man zu seinen Fehlern steht,
In diesem Sinne wünsche ich Euch ein gutes voneinander Lernen,
Eure Giulia