Ihr Lieben, gerade habe ich etwas erlebt und mir überlegt, gleich mal etwas dazu schreiben. Warum empfinden wir manche Kinder als unerzogene Kinder? Und sind sie es denn wirklich? Was hat unser eigener Lebensrucksack damit zu tun?
Aber jetzt erst mal der Reihe nach, was war passiert. Wir sind an einem Spielplatz mit Wasser und über eine besondere Konstruktion können die Kinder Wasser aus einem Teich hoch pumpen und im Sand dann damit spielen. Das ist natürlich ein Magnet für Kinder, ES sind alle Elemente, die sie für ein tolles Spielen brauchen, vorhanden: Wasser und Sand.
Ein etwas älterer Junge gesellte sich zu meinen und sie spielten miteinander. Auf einmal sah ich, dass mein jüngerer Sohn sich das T-Shirt rieb und auszuwringen versuchte. Kurz davor hatte ich den anderen Jungen mit einem Eimer Wasser an ihm vorbeigehen gesehen. Ich ging zu meinem Sohn und fragte ihn, ob er naß geworden sei und wie das passiert sei. Der andere Junge hatte ihn – aus Versehen- angeschüttet, als er mit dem Eimer an ihm vorbeigegangen war. Das Shirt war an ein paar Stellen zwar naß, aber da es aus Gore-Tex ist, rieben wir etwas daran, damit es schneller trockenen würde.
Als ich also T-Shirt trockend neben meinem Sohn stand, kam der Junge an uns vorbei und rempelte mich deutlich an der Schulter an. Er ging dann normal weiter – hatte also gar nichts bemerkt.
In seinem Element sein
Ich kann das eigentlich gut nachvollziehen, wenn man so in seinem Element ist, dass man dann gar nichts mitbekommt. Aber dennoch stelle sich mir die Frage, wann man „in seinem Element ist“ und wann man nicht spürt, was um einen herum geschieht. Wann man von einer Beschäftigung ergriffen ist, dass man alles um sich herum ausblendet – sozusagen im Flow ist, der wunderbar sein kann, und wann man aber nichts bemerkt, weil man auch ohne im Element zu sein, nicht gelernt hat, zu spüren, zu empfinden, mitzufühlen.
Ich sprach den Jungen (freundlich und nicht mahnend) an, ob er mitbekommen habe, meinen Sohn naß gemacht, und später mich angerempelt zu haben. Es tat sogar immer noch weh, es war also etwas heftiger gewesen. Beides verneinte der Junge. Und in dem Moment tat er mir unendlich leid. Als ich mit ihm sprach, merkte ich, dass er zappelte, nicht ruhig stehen konnte. Ich gewann den Eindruck, dass er gar nicht bei sich war, als könne er sich selbst überhaupt nicht spüren. Wie sollte er da ein Empfinden für andere aufbringen? Vermutlich hatte er nie gelernt, auf sich und andere zu achten. Achtsam durchs Leben zu gehen fällt dann nicht leicht. Obwohl es gerade dann so wichtig wäre.
Schnell hätte man sagen können, er sei ein unerzogenes Kind. Schließlich entschuldigte er sich weder bei mir, noch meinem Sohn. Aber mit dieser pauschalen Beurteilung, stempeln wir andere viel zu schnell ab. Ich sah plötzlich einen traurigen Jungen vor mir. Ein Kind, dass nicht gelernt hatte, zu empfinden, das nicht angeleitet wurde, wie man mit anderen Menschen umgeht. Ein Kind, dem nicht vorgelebt wird, was es heißt, Rücksicht auf andere zu nehmen, emphatisch zu sein und mit anderen mitzufühlen. Und das auch vielleicht nicht gelernt hatte, seinen eingenen Körper zu spüren. Den Zusammenstoß hätte auch sein Körper spüren müssen. Aber vermutlich bin ich schlicht zu empfindlich:-)
Wie kann man sich da über das Kind ärgern und innerlich schimpfen, was für unerzogene Kinder auf diesem Spielplatz unterwegs sind?
Der nette Opa des Jungen, saß keine 2 m von uns entfernt, las und hatte überhaupt nix mitbekommen. Woher sollte der Junge also Achtsamkeit gelernt haben? Ok, ok, ich lese auch gern vertieft, aber wenn ein anderer Erwachsener mit meinen Kindern spricht, bin ich voll da. Ok, ok, der Mann bekommt den Opa Bonus. Ich stelle häufig fest, dass Großeltern vieles deutlich entspannter sehen, als wir und das ist auch gut so. Vor allem für die Enkel, wenn sie auch mal unerzogene Kinder sein dürfen, ohne, dass sie von den Eltern gemaßregelt werden. Also lassen wir den Opa mal aus dem Spiel und die Eltern kenne ich nicht.
Egal, was in dieser Familie passiert sein mag, oder auch nicht bzw. alles nur meine Einbildung ist: Ich wünschte mir, dass Kinder durch ihre wichtigsten Vorbilder- uns Eltern- darin erzogen werden, umsichtig zu sein und sein Umfeld und deren Empfindungen wahrzunehmen. Mitzubekommen, denn ich jemanden schmerzlich anrempele oder mit Wasser anschütte. Nur wenn ich meine Umwelt wahrnehme, kann MICH auch meine Umwelt viel besser erkennen.
Und ich wünsche mir Eltern, die diese Kunst selbst wiederfinden, häufig können sie es nicht weitergeben, weil sie es selbst nicht können. Mit etwas Abstand und einer gehörigen Portion Humor über sich selbst kann man diese altern Muster durchbrechen und unter viel Unrat im Lebensrucksack über Bord werfen. So, denke ich, geht es sich leichter durchs Leben.
Häufig fehlt nur der Mut und die Muße, sich diesen Rucksack genauer anzusehen.
Macht’s gut für heute Ihr Lieben.
Alles Liebe, Giulia
Du hast so recht.
Was für ein berührender Artikel.
Unerzogen, im Sinne von nicht Gesellschaftskonform, von unangepasst ist für mich ein Unwort.
Kinder oft sind grade erzogene Kinder unerzogen. Weil ihnen nicht vorgelebt sondern anerzogen wird.
Der Junge aus deinem Beispiel für auch mir leid. Ich wünsche ihm Vorbilder für sein weiteres Leben – auch wenn eine so kurze Situation das natürlich nicht abschließend beurteilen lässt.
Beziehungsweiseliebe,
schön, wenn ich Dich berühren konnte. Da sind wir uns einig, dass das ein Unwort ist.
Ich möchte Verständnis dafür schaffen, dass Kinder uns Eltern mehr brauchen, als es viele wahr haben wollen. Es hat niemand gesagt, Eltern und Vorbild sein, sei ein leichter Job ?.
Alles Liebe und auf bald, Giulia